In Schloss Neuenbürg
am 27.8.2006
Sehr geehrte Damen
und Herren, liebe Dao,
schon lange
beschäftigt sich die Künstlerin Dao Droste mit den grundlegenden Fragen
menschlichen Seins – und dies ganz besonders in ihren Installationen. Zwar hat
sich die Künstlerin auch in anderen künstlerischen Gattungen, der Malerei, der
Plastik ausgezeichnet, hat Collagen und Videos produziert. Doch gelingen ihr,
so meine persönliche Auffassung, die eindringlichsten ästhetischen
Formulierungen ihrer Fragen in ihren großen Boden -Installationen.
Wenn wir – wie Sie es
alle soeben getan haben – in die Tiefe des Neuenbürger Schloßkellers
hinabsteigen, so ist dies nicht nur ein Akt der Muskelkraft, sondern zugleich
ein symbolischer Akt: Sie lassen die geschäftige, ja hektische Alltagswelt
hinter sich und begeben sich in eine neue Welt, die andere Erfahrungen
bereithält.
Auf dem Boden des mit
seiner Patina den Atem der Zeit und der Vergänglichkeit evozierenden
Kellergewölbes mit seinem leicht modrigen Geruch sind zwölf Kreise mit je
sieben Büsten angeordnet, gleichförmig, wiederkehrend, Büsten aus gebranntem
Ton, braun die Köpfe, silbrig-schwarz die Schulterpartie.
Auf den ersten Blick
sind alle gleich. Dann entdecken wir Unterschiede, eine Vielfalt in der
Einheit. Tatsächlich, jede Büste ist anders, in ihrem Gesichtsausdruck, in
ihren Schrunden – ein menschliches Individuum. Die Menschen sind verschieden,
so die Botschaft, und doch sind sie alle gleich. Wie in ihren früheren
Installationen Open-mindedness 1999 und terra cantans 2001 benutzt Dao Droste
auch in dieser Installation diesseits jenseits die Verfahren der
Vervielfältigung und Reihung. Es kommt jedoch eine neue Dimension hinzu: die Personen treten in Beziehung zueinander.
Während bei Open-mindedness Gesichter/Antlitze und bei bei terra cantans
vollrunde Köpfe, scheinbar beziehungslos nebeneinander lagen, sei es auf dem
Boden einer Krypta oder im welken Laub eines Parks (wie im Goetheinstitut
Nancy), so versammeln sie sich hier in einer Gruppe, bilden eine Gemeinschaft.
Massenhaft reproduziert sind hier nicht die Gesichter oder Köpfe, die
Individuen, sondern aus mehreren Individuen bestehende Zirkel. Sie blicken sich
an, sie kommunizieren. Ihrer Anordnung um einen symbolischen runden Tisch
können wir entnehmen, daß sie gleichwertig sind, sie gleich viel zu sagen
haben. Es gibt keine Hierarchien, weder innerhalb der einzelnen Gemeinschaften
noch zwischen den Gemeinschaften selbst.
Wer hat sich hier
versammelt ? Zu welchem Zweck ?
Je genauer man
hinschaut, desto größer die Irritation: zweifellos handelt es sich um
menschliche Köpfe, doch alle haben Verletzungen, nicht kleine Schrammen,
Schnitte oder Dellen, nein, tiefe Einschnitte wohl älteren Datums, die
auffällige Narben zurückließen, und vor allem : alle, ausnahmslos alle haben
ein mehr oder weniger großes Loch in der Schädeldecke. Haben wir uns in ein
Totenreich verirrt ? In einen Traum ? Eine Vision ? Soll hier auf ein
Gewaltverbrechen aufmerksam gemacht werden – oder sind diese Schädelöffnungen
eher metaphorisch zu verstehen – als Möglichkeit der Transzendenz aus dem
Irdischen ? denn Friede und Ruhe geht von den Kreisen aus.
Um welche Realität
geht es hier ?
„diesseits – jenseits“ hat die aus Vietnam
stammende Künstlerin Dao Droste ihre Installation hier im Neuenbürger Schloßkeller benannt.
„diesseits -
jenseits“, das meint zunächst eine Lokalisierung, einen Ort: auf der einen
Seite, auf der anderen, der gegenüberliegenden Seite. Wir verwenden in unserem
heutigen Sprachgebrauch diese beiden Worte im Alltag vor allem dann, wenn wir
einen Ort auf der einen oder anderen Seite eines Flusses oder eines Gebirges
bezeichnen wollen: diesseits des Rheins, jenseits der Alpen. Zwischen beiden
Orten steht in jedem Fall eine Grenze, wenn nicht eine natürliche, dann eine
von Menschenhand gezogene, z.B. eine politische Grenze, „jenseits des Grenze“.
Doch gehört dieser Sprachgebrauch je länger je mehr der gehobenen, der
literarischen Sprache an, nicht zuletzt wegen des darauffolgenden Genitivs, der
aus dem gesprochenen Deutsch langsam zu verschwinden scheint.
Doch in der
substantivierten Form, das Diesseits, das Jenseits behaupten sich beide
Begriffe. Noch immer bezeichnen sie Orte, die durch eine Grenze von einander
geschieden sind, Orte freilich, die sich so genau nicht lokalisieren lassen. Es
sind Bezeichnungen für Sphären, bei denen die konkrete Geographie keine Rolle
spielt und die Grenze im Reich des Immateriellen angesiedelt ist, eine
Begrifflichkeit also, die der Weltanschauung, der Philosophie, der Religion
zugehört.
Das Diesseits ist
noch einfach zu übersetzen; es bezeichnet die irdische Welt; das Jenseits- die
andere- ist je nach Glauben und Weltanschauung benannt: Ewigkeit, Himmelreich,
Überwelt, Unterwelt, Gottesreich, die ewigen Jagdgründe. Die Grenzlinie ist in
der Regel der Tod.
Dieser zunächst
räumlich verstandenen Grenze wird – in manchen Glaubensüberzeugungen, z.B. im christlichen Denken – eine zeitliche
Dimension zugesellt. Das Diesseits ist endlich, das Jenseits unendlich, ewig.
Viele Religionen gehen von einer solchen Dualität der Wirklichkeiten aus, die
Grenzziehungen freilich folgen sehr unterschiedlichen Auffassungen. Am
deutlichsten lassen sich diese in den Bestattungsriten und im Ahnenkult
festmachen.
In Vietnam, der
Herkunft der Künstlerin Dao Droste, spielt der Ahnenkult eine zentrale Rolle.
Demgegenüber sind Glaubensrichtungen oder weltanschauliche Überzeugungen von
untergeordneter Bedeutung. Grundlegend für die vietnamesische, von Taoismis und
Buddhismus geprägte Gesellschaft ist es, daß die Verstorbenen mit den Lebenden
eine Einheit bilden. Auch im Christentum gibt es ja die Überzeugung von einer
Gemeinschaft der Lebenden und der Toten; die Formen des Totengedenkens und der
Ahnenverehrung sind freilich sehr verschieden.
Nach vietnamesischer
Auffassung und Praxis ist die Gemeinschaft der Lebenden und der Toten nicht
abstrakt oder im geistig-spirituellen Raum angesiedelt; vielmehr nimmt der
Verstorbene weiterhin aktiv am Familienleben teil. Er ist stets präsent. In
nahezu jedem Haus, jeder Wohnung gibt es einen Ahnenaltar. Dieser ist der
wichtigste Platz des Hauses. Auf ihm stehen Fotografien der Verstorbenen. Zu
wichtigen Anlässen, wie Hochzeit , Geburt oder Tod werden den Toten kleine
Opfergaben wie Räucherstäbchen, Obst oder Blumen gebracht. Ganz besonders wird
der Jahrestag eines Verstorbenen begangen. Die Lebenden haben gegenüber dem
Verstorbenen feste Verpflichtungen. Der Ahne muß geehrt werden, man muß ihm
Respekt und Ehre erweisen. Bei wichtigen Familienangelegenheiten wird er
befragt; er sitzt mit am Tisch, nimmt an der Familienkonferenz, die über
wichtige Fragen entscheidet teil.
Nach vietnamesischer
Überzeugung ist das Leben ein sich immer erneuernder Prozeß, zu dem auch der
Tod gehört. Dementsprechend verläßt der Verstorbene die Lebenden nicht, er
wechselt nur in eine andere Existenzform über, und dann beginnt alles von
Neuem. Die Grenzlinie zwischen diesseits und jenseits – so scheint mir - ist
nicht sehr scharf gezogen. Das Leben wird als Kreislauf gesehen – und so hat
der Kreis, in dem Dao Droste die Büsten angeordnet hat, eine weitere Bedeutung.
Doch es wäre zu kurz
gegriffen, zu glauben, daß Dao Droste uns hier in erster Linie mit den Riten
und Überzeugungen ihres Herkunftslandes vertraut machen wollte, auch wenn sie
ihre persönlichen Vorstellungen bis heute entscheidend prägen.
Die Frage nach Leben
und Tod, nach Werden und Vergehen, ist eine, wenn nicht die existentielle Frage
der Menschheit, eine der Fragen, der sich jeder und jede stellen muß, jenseits
seiner kulturellen Zugehörigkeit/ Prägung, ganz individuell.
In ihren
Installationen stellt Dao Droste diese Fragen jedes mal aufs neue, und findet
jedes Mal einen neuen Weg der Annäherung, des Ins-Bild-Setzens, ganz im Sinne
Rilkes:
„Alle Dinge sind ja
dazu da, damit sie uns Bilder werden in irgendeinem Sinn. Und sie leiden nicht
dadurch, denn während sie uns immer klarer ansprechen, senkt unsere Seele sich
in demselben Maße über sie.“
Die letzten
Geheimnisse kann man nicht rational erfassen, man kann sie nur umkreisen - das
gilt für die Künstlerin wie auch für die Besucher, denen sie mit Ihrer Arbeit
diese Möglichkeit eröffnet. Jeder muß seine eigene individuelle Wahrheit, seine
Antwort finden.
Und in der Tat: Die hier
gezeigte Installation „diesseits – jenseits“ läßt sich ganz individuell
erfahren, von verschiedenen – im konkreten räumlichen, denn die Installation
ist begehbar, ja sie muß betreten werden, Standpunkten heraus, aus jeweils
unterschiedlichen Blickwinkeln, aus individuellen Befindlichkeiten wie
kulturellen Prägungen heraus – erschafft
sich jeder Betrachter, jede Betrachterin seine eigene Erfahrung, sein eigenes
Kunstwerk – und findet so zu seiner eigenen Antwort, zu sich selbst.
„diesseits –
jenseits“ stellt die Frage nach dem Woher und Wohin, nach Werden und Vergehen.
Dieses ursprüngliche
Spannungsfeld von Werden und Vergehen führt uns an den Beginn der
abendländischen Philosophie, z.B. zu dem griechischen Naturphilosphen
Anaximandros vom Milet (ca. 611 – 546 v.Chr.)
„Der Ursprung der
seienden Dinge ist das Unbegrenzte/
Aus welchem die
seienden Dinge ihre Entstehung haben/
dorthin findet auch
ihr Vergehen statt,
wie es gemäß der
Ordnung ist.“
oder - ich mache eine großen Sprung - in den
Worten von
Lao-tse, Vers 16 au
dem Tao Te King
„Vom Ewigen
Erreiche die große
Leere
Bewahre die tiefe
Stille
Alle Dinge entstehen
und vergehen
Betrachte ihre
Wiederkehr
Alles kehrt zum
Ursprung zurück
Die Rückkehr zum
Ursprung ist Stille
Dies ist der Weg der
Natur
Der Weg der Natur ist
ewig...“
(Übersetzung von Bodo
Kirchner)
Die Installation
„diesseits –jenseits“ wird zudem mit Klängen untermalt, die die Stille des
Raumes, die noch bewußter machen und zugleich das Thema der Arbeit noch einmal
in ein anderes Medium umsetzen.
Bei Stille (!) ist
zunächst ein gleichmäßiger Ton zu vernehmen, der Schlag eines menschlichen
Herzens, Symbol des Lebens, es folgen Gongschläge, die nachhallen und
schließlich Gebetsfetzen aus einem Abschiedsritual, dann wieder Gongschläge...
von Ferne das Zwitschern der Vögel: alles beginnt erneut, der Kreislauf der
Natur ... Werden und Vergehen, Werden und Vergehen, seit Urzeiten immer wieder
immer wieder immer wieder ....
© 2006 Elisabeth Schraut